In einem zweiteiligen Beitrag widmet sich Johann Amsis der Kindheit in Wasenbruck. Im ersten Teil steht die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der Erzählung.
Es war eine mühsame Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, es mangelte an allem, außer an Arbeit. Die Wasenbrucker Filztuchfabrik von Hutter und Schrantz war mit Arbeit ausgelastet, im Dreischichtbetrieb wurde zwölf bis vierzehn Stunden täglich gearbeitet. Das Heizmaterial war rar, der Fernseher noch nicht erfunden und für das Wirtshaus war kein Geld vorhanden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren oft von weit entfernten Gegenden zugezogen und stammten wohl selbst aus kinderreichen Familien. Die Eltern gehörten einer damals sozial benachteiligten Schicht an und waren bei der Familiengründung noch sehr jung. Fehlende Verhütungsmittel und mangelnde Aufklärung sorgten dafür, dass die jungen Paare sehr bald und rasch hintereinander Kinder bekamen.
Die Wasenbrucker Schulchronik berichtet, dass 1920 die Höchstzahl von sechzig Mädchen und siebzig Knaben erreicht wurde, hundertdreißig Kinder waren somit in der Schule eingeschrieben. Dazu kamen noch die, die noch nicht eingeschult waren, wenn ich dies nun so hochrechne, werden in dieser Zeit vermutlich mehr als zweihundert Kinder in Wasenbruck gewohnt haben. Man darf auch nicht vergessen, dass es damals „nur“ fünf Fabrikhäuser und die Mühle gab, in der die Familien dicht an dicht gewohnt haben. Da wird vermutlich einiges los gewesen sein. Jedes Familienmitglied war gefordert, angefangen von den Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Onkeln und Tanten, vielleicht sogar die Nachbarn und die eigenen älteren Kinder, für Ordnung bei der Rasselbande zu sorgen. Die Schulkinder hatten ja einen guten Teil des Tages mit dem Schulweg und in der Schule zu tun. Die größeren mussten Essen kochen, Wäsche waschen, die Kleinen versorgen, in der Au oder bei der Leitha Brennholz sammeln oder im Schrebergarten mithelfen.
Die Arbeiterkinder waren oft auch sich selbst überlassen, sie hatten aufgrund ihrer Herkunft mit gesellschaftlichen Benachteiligungen zu kämpfen und hatten weniger Bildungschancen. Aufgrund der vielen Kinder, die nicht unbeaufsichtigt sein sollten, drängte die Wasenbrucker Arbeiterschaft auf einen Kindergarten, der später tatsächlich verwirklicht und 1926 eröffnet wurde. Ein Meilenstein, der zu einer geregelten Tagesstruktur der Kleinen verhalf. Schon früh wurde auch eine sozialdemokratische Jugendgruppe, die Roten Falken, gegründet, die mit den Kindern regelmäßige Heimabende veranstaltete und auch sportliche Wettbewerbe und Wanderungen unternahm. Bei der Feuerwehr, bei der Musikkapelle, bei den Fußballern, beim Turn- und beim Theaterverein, überall wurden die Kinder eingebunden.
Die Firma Hutter und Schrantz trug auch ihren Anteil an sozialer Verantwortung gegenüber den Arbeiterkindern bei. Schon zu Weihnachten 1904 gab es für die sechzig Schüler der Wasenbrucker Schule, wie auch in den folgenden Jahren, eine Christbescherung, deren Kosten von den Inhabern der Fabrik getragen wurden. Jedes Kind erhielt 1904 Bäckereien Orangen, Datteln, Feigen, Nüsse und Äpfel. Die Knaben außerdem Stoffe für Hemden, die Mädchen teils fertige Schürzen, teils Stoffe für Blusen. Bei der Christbescherung im Kriegsjahr 1915 erhielten die Kinder erstmals neben Dingen des täglichen Gebrauches, auch Spielsachen, die Buben einen deutschen Helm und Säbel (!), die Mädchen eine Puppe und ein Ledertäschchen. Von der Arbeiterbewegung wurde auch die Ortsgruppe „Freie Schule Kinderfreunde“ gegründet, die für viel Abwechslung im tristen Alltag sorgte.
Aber was haben die Kinder damals gespielt? Aus Erzählungen meiner Eltern habe ich so einiges mitbekommen, etwa das „Spuintreim“ („Spulentreiben“). Aus der Spinnerei haben die Eltern so manche „Spuin“ heimgebracht, das war so eine Art Holzkegel mit einem Loch, der in der Spinnerei auf die Spinnmaschine aufgesteckt wurde, um darauf Garne und Schnüre aufzuspulen. Dieser Holzkegel wurde von den Kindern auf seine Spitze gestellt und mit einer Schnur umwickelt, die wieder an ein Holzstäbchen gebunden war. Durch das schnelle abwickeln der Schnur, drehte sich der Kegel wie ein Kreisel auf seiner Spitze. Der Kegel des Mitspielers, der am längsten auf der Spitze lief, war Sieger. Durch das tägliche Training gab es bei diesem Spiel wahre Meister.
Das Kugelscheiben mit Glasmurmeln war auch so ein beliebtes Spiel, bei dem man die Murmeln der Mitspieler gewinnen konnte. Beim „Aumäialn“ musste man kleine Münzen, Steine oder Glasmurmeln zu einer Mauer werfen. Der Gegenstand der am nächsten bei der Mauer liegen blieb, hatte gewonnen. Gummihüpfen, Seilspringen, Tempelhüpfen und ähnliches wurde natürlich auch gespielt. Sehr beliebt war auch „Blinde Kuh“ oder „Vasteckalspün“ (verstecken Spielen). Da konnten alle mitmachen, das war eine Gaudi bei den vielen beteiligten Kindern.
Die Älteren saßen einstweilen auf den Stufen bei den Eingängen der Arbeiterwohnhäuser, beaufsichtigten die Kinder und erzählten, oft fantasievoll ausgeschmückte Geschichten von früher bzw. von Kriegserlebnissen, die sie angeblich erlebt hatten. Die Kinder lauschten den spannenden Erzählungen: „Wia ma min Barras in Moskau woan, do sa mah auf da Wolga gfoan, bis de Schienen has gaunga san“. Vor lauter „Schmähtandln“ haben so manche den Überblick über ihre erzählten Geschichten verloren, die Zuhörer sind dann in schallendes Gelächter verfallen und der nächste „Schmähtandler“ erzählte einen Schwank aus seinem Leben.
So manches kleine Mädchen saß dabei und spielte mit ihrer Strickliesel. Oder auch mit einer Freundin „Bandl ohnehma“, da gab es eine Schlinge aus einer Schnur mit der Figuren abgenommen und dabei in eine andere Musterformation umgewandelt wurden. Im Winter wurde Rodel gefahren, als es das Türkenbergl noch gegeben hat, später wurden der Leithadamm oder die Hügel im Reintal zu Rodelstrecken. Im Sommer wurde die Leitha zum Umwaten, Baden und Fischen genutzt. Die Heim- und die Pfarrerwiese dienten zum Ballspielen, Völkerball oder Blumen „brocken“. Die Au war ein Abenteuerspielplatz zum Indianerspielen oder zum Spazierengehen.
Die Jugendlichen, die schon am anderen Geschlecht interessiert waren, lagen im Sommer gerne auf der Wiese neben der Tiefen Leitha, zum Sonnenbaden und um gegenseitig anzubandeln. Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich beim „Leithabaum“ trafen, um zu tratschen. Als ihnen das zu fad wurde, haben sie sich Arm in Arm über die ganze Straßenbreite aufgestellt und die Straße komplett abgesperrt. In mehreren Reihen zogen sie vom Leithabaum bei der Seichten Leitha bis zur Fabrik zur Tiefen Leitha, mehrmals am Tag wurde so marschiert – Autos fuhren ja damals nur selten durch den Ort.
Auch die dunkle Zeit Österreichs erreichte die Kinder der Woibehm. Dass es die Hitlerjugend (HJ) oder den Bund Deutscher Mädel (BDM) als Instrumente der ideologischen Indoktrinierung auch in Wasenbruck gab, ist wegen der Pflichtmitgliedschaft zu vermuten. Dazu waren mir aber keine Erzählungen zugänglich, auch habe ich leider keine Aufzeichnungen gefunden. Das Kindsein war damals jedenfalls schnell vorbei, die jungen Woihbehm wurden zum Militär eingezogen und als Soldaten an die Front geschickt. Im Laufe des Krieges schlug das traurige Schicksal unbarmherzig zu, viele verloren ihr Leben und blieben am Schlachtfeld zurück. Fast jede Familie war davon betroffen. Auch die Mädchen mussten nach Götzendorf oder Gramatneusiedl um im Lazarett Schwestern- oder Pflegedienste zu leisten –Tätigkeiten, für die besonders der Bund Deutscher Mädel herangezogen wurde.
Fortsetzung folgt …
Foto 1: Wasenbrucker Schulkinder, um 1920 (?) (Wasenbrucker Heimatseite)
Foto 2: Betreuung der Kleinen im Wasenbrucker Kinderheim, um 1930 (Fr. Dlask)
Foto 3: Mittagsruhe im Kinderheim, um 1929 (Tätigkeitsbericht des Gemeinderates, 1929)
Foto 4: Fasching im Kinderheim, um 1930 (Fr. Dlask)
Foto 5: Kinder und Jugendliche bei einer Maifeier, um 1930 (Archiv Hans Amsis)
Foto 6: Rote Falken der Ortsgruppe Wasenbruck, 1927 (Archiv Hans Amsis)