Im zweiten Teil ihres Beitrages zu den Findelkindern setzt sich Ava Pelnöcker mit der Situation in den Mannersdorfer Herrschaftsorten auseinander.
Die hohen Erwartungen, die man im späten 18. Jahrhundert in die Außenpflege von Findelkindern gesetzt hatte, konnten letztlich nicht im Geringsten erfüllt werden. Nicht von ungefähr war das Gebär- und Findelhaus als „k.k. privilegierte Mordanstalt“ verschrien. Von den rund 750.000 Kindern, die in den Jahren von 1784 bis 1910 über diese Institution an Pflegefamilien vermittelt wurden, überlebten in Folge mangelhafter Ernährung und Versorgung letztlich nur etwa fünf Prozent! Lag die allgemeine Mortalitätsrate der Kinder in den 1820er-Jahren während des ersten Lebensjahres bei etwa 35 Prozent, war sie für die bedauernswerten Pfleglinge aus dem Findelhaus etwa doppelt so hoch. In Mannersdorf konnten zwischen 1815 und 1822 insgesamt 83 Sterbefälle in den Matriken gezählt werden. Ihren traurigen Höhepunkt erreichte die Anzahl der verstorbenen Findlinge im Jahre 1820 mit 29 Kindern. In Haus Nr. 55 starben innerhalb eines Jahres drei Findelkinder, in Haus Nr. 90 sogar fünf Findelkinder binnen zweier Jahre.
Akribisch verzeichnete Pfarrer Anton Schindler (1766-1828) in den Mannersdorfer Sterbematriken die Namen, das Alter und die Nummern der Kinder, mit denen sie im Wiener Findelhaus bei ihrer Geburt registriert worden waren. (Noch heute werden die Registerbände im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrt.) Zu den häufigsten Todesursachen zählten neben Atemwegserkrankungen (Keuchhusten) und Fraisen (Krämpfe) vor allem Auszehrung und Durchfall. Dies deutet darauf hin, dass die Kinder mit ungeeigneter, oft auch mit verdorbener Ersatznahrung – meist Kuhmilch oder Mehlbrei – versorgt wurden. Die Muttermilch blieb offenbar den eigenen Kindern der Pflegemütter vorbehalten, obwohl ja gerade sie eine Voraussetzung für die Abgabe der Kinder an die sogenannten „Brustparteien“ bildete. Erschütternd liest sich der Bericht eines Arztes, der schon früh den Missstand der industriösen Pflege anprangerte: „Auf einem elenden, über zwei Tische gebreiteten Strohlager lagen vier Findlinge, keiner noch zwei Monate alt, nebeneinander. Drei vom Durchfall besudelt, der vierte, vielleicht schon seit einer Stunde tot!“
Doch alle wohlgemeinten Reformvorschläge scheiterten am enormen Druck, die vielen mutterlosen Säuglinge unterbringen zu müssen, deren Zahl sich in Spitzenjahren auf bis zu 10.000 Kinder belaufen konnte! Während die meisten Findlinge im Alter von einigen Wochen oder Monaten verstarben, finden sich in den Mannersdorfer Sterbematriken auch Pfleglinge, die ein höheres Alter erreichten: Etwa Johann Staropitsch, der älteste Findling, der uns in den Matriken entgegentritt. Er starb mit elf Jahren am 6. Juni 1823 an Wassersucht. Ignaz Schwarz zählte sieben Jahre, als er am 2. August 1831 an Auszehrung (Entkräftung) im Haus Nr. 145 verschied. Anton Stuhl erlag den Fraisen im Alter von 6 Jahren und wurde am 3. April 1825 bestattet.
Ob weitere Mannersdorfer Pflegekinder ein höheres Lebensalter erreichten, kann mangels entsprechender Aufzeichnungen nicht gesagt werden, denn normalerweise endete die zentral organisierte Versorgung der Kinder durch das Findelhaus bereits mit dem zehnten Lebensjahr. Anschließend wurden sie dem Armenwesen ihrer Heimatgemeinde unterstellt oder konnten als billige Arbeitskräfte bei den Pflegeeltern verbleiben. Gerade die Produktion in der Mannersdorfer Leonischen Drahtzugfabrik bot eine für Kinder besonders geeignete Betätigung und unverzichtbaren Verdienst für ihre Pflegefamilien – Kinderarbeit war damals noch bittere Realität.
Die letzten Findlinge, die in Mannersdorf begraben wurden, dürften Emile Hartmann (3 Wochen) und Karoline Pinsch (3 Jahre) gewesen sein, die kurz nacheinander im Juni 1840 begraben wurden. In beiden Fällen wurden erstmals die Namen der Pflegemütter in den Matriken aufgezeichnet: Anna Karpf, eine Inwohnerswitwe und Ursula Trittinger, ein „Inwohnersweib“ (Inwohner waren unbehaust, also nur eingemietet).
Nicht nur in Mannersdorf, vor allem in den ärmeren Nachbarorten entwickelte sich das Findelsterben zu einem Massenphänomen. In Hof am Leithaberg wurden in den Spitzenjahren von 1818 bis 1820 durchschnittlich hundert Sterbefälle jährlich registriert. Die ersten Findlinge sind hier bereits 1807 nachweisbar. Erst in den 1850er-Jahren werden hier keine einschlägigen Eintragungen mehr verzeichnet.
In Au am Leithaberg kümmerte sich Pfarrer Georg Wurzinger (1805-1834) hingebungsvoll um die Vermittlung der mutterlosen Kinder. Hier wurde das erste Findelkind am 3. August 1813 zu Grabe getragen, im Jahr 1831 wurden 70 Findlinge bestattet. In dem am 28. Jänner 1804 in Au geborenen Mathias Kuso fand Wurzinger einen noch engagierteren Nachfolger. Als späterer Direktor und Bibliothekar des k.k. allgemeinen Krankenhauses in Wien war es Kuso ein besonderes Anliegen, das Elend der Findelkinder zu bessern. Er wurde am 12. August 1861 am Friedhof zu Weigelsdorf bestattet, wo sein biedermeierlicher Grabstein noch heute erhalten ist.
Die Findelkinder hatten durch ihren Sonderstatus Anspruch auf ein kostenloses Begräbnis und fanden am jeweiligen Ortsfriedhof ihre letzte Ruhestätte. Da der Mannersdorfer Friedhof seit den 1850er-Jahren wiederholt neu belegt wurde, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob den Kindern ein eigener Bereich für ihre Bestattung vorbehalten blieb, wie dies früher üblich war. Auf manchem Gottesacker findet man zuweilen noch berührende Inschriften auf Kindergräbern, die trauernde Eltern einst der Erinnerung an ihre leiblichen, von Marmorengelchen beweinten, Lieblinge widmeten. Den vielen „überlästigen und nachtheiligen“ Kindern aus dem Wiener Findelhaus hat in Mannersdorf und Umgebung wohl kaum wer eine Träne nachgeweint!
Foto 1: Abschied am Findelhaus (Die Gartenlaube, 1859)
Foto 2: Findelkind Johann Staropitsch verstarb 1823 mit 11 Jahren (Matricula, Pfarre Mannersdorf, Sterbebuch 1823-47)
Foto 3: Verstorbene Findelkinder mit ihrer "Registriernummer" (Matricula, Pfarre Mannersdorf, Sterbebuch 1823-47)
Foto 4: Die wohl letzten in Mannersdorf verstorbenen Findelkinder von 1840 mit den Namen der Pflegemütter
(Matricula, Pfarre Mannersdorf, Sterbebuch 1823-47)
Foto 5: Ein Kindergrab aus der Zeit um 1900, eine solcher liebevoller Erinnerungsort blieb den Findelkindern wohl verwehrt (Archiv Ava Pelnöcker)